Samstag, 24. Januar 2009
 
Noch einmal zum Mißbrauchsskandal in Amstetten PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Michael Pröbsting   
Dienstag, 13. Mai 2008

Der Mißbrauchs- und Inzestskandal von Amstetten sei zu wenig von einer radikal-feministischen und revolutionär-marxistischen Perspektive beleuchtet worden, meint der Autor von der Liga der Sozialistischen Revolution und hilft dem ab.

Die Demagogie der Bürgerlichen, das Schweigen der Linken und die Antwort der MarxistInnen

Zwei Wochen nach dem Bekanntwerden des erschütternden Mißbrauchsskandals in Amstetten ist das Thema nach wie vor überall präsent. In Alltagsgesprächen ebenso wie in den Medien, nicht nur im Inland, sondern auch bei CNN, BBC, am Cover des SPIEGEL usw.. Die Bürgerlichen - von Rechtsaußen à la Strache und Westenthaler über die Kirche bis hin zu Gusenbauer - versuchen, den Skandal demagogisch auszunützen. Sie predigen ihr reaktionäres Weltbild und tarnen ihre Propaganda für den Ausbau des Überwachungsstaates durch heuchlerisches Mitleid mit den Opfern der Gewalt.

Was tut die Linke angesichts dieser zentralen Debatte in der österreichischen Innenpolitik? Sie schweigt und geht auf Tauchstation. Sozialistische Jugend, KPÖ, SLP, Funke usw. - sie alle haben bis heute kein einziges Wort über den Mißbrauchsskandal in Amstetten verloren! Die einzige Ausnahme sind einige Artikel von zwei unorganisierten linken Autoren, die auf der Homepage www.dieanderezeitung.at einige Kommentare zu diesem Thema veröffentlichten. (1)

Warum schweigt die Linke? Weil sie überhaupt nicht versteht, daß der Mißbrauchsskandal in Amstetten ein zentrales gesellschaftspolitisches Thema aufwirft - nämlich die bürgerliche Familie und die häusliche Gewalt im Kapitalismus. Und weil sie nicht versteht, daß die ArbeiterInnenbewegung diese Frage nicht den rechten Demagogen überlassen darf, sondern eigenständige, revolutionäre Antworten darauf geben muß.

Für uns von der Liga der Sozialistischen Revolution (LSR) ist der Ausgangspunkt die Erkenntnis der gesellschaftlichen Bedeutung, die sich hinter dem schrecklichen Vorfall in Amstetten verbirgt. Womit wir es hier zu tun haben, ist weder ein zufälliger Einzelfall noch hat es irgendwas mit der Amstettner oder der österreichischen Mentalität zu tun (wie z.B. die jüngst bekannt gewordenen Fälle von Kindesmißbrauch und -mißhandlung auf der britischen Insel Jersey oder in einer christlichen Sekte in den USA zeigen). Vielmehr - wie wir in unserem unmittelbar nach Bekanntwerden des Skandals erschienenen Artikel betonten - ist "das Drama in Amstetten nur die Spitze des Eisberges, ein abscheuliches Extrembeispiel für körperliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Familie." (2)

Die Antwort der rechten Demagogen

Während die Linke nun schweigt, zu diesem Thema anscheinend keine Erklärung und nichts zu sagen hat, sind die rechten und konservativen Wortführer dafür umso redseliger. Ihre Antwort war vorhersehbar und ist so einfach wie verlogen. Strache, Westenthaler & Co fordern Kastration für Sexualstraftäter, "wirklich lebenslängliche Haftstrafen", Arbeitsverbot usw. Dies ist natürlich pure Demagogie. In Wirklichkeit haben diese Leute ein - sagen wir einmal diplomatisch - "flexibles" Verhältnis zu Vergewaltigungen und Mord.

Erst vor wenigen Tagen zum Beispiel unterzeichneten Strache und seine FPÖ in Belgrad ein Kooperationsabkommen mit der rechtsradikalen Serbischen Radikalen Partei (SRS) des Kriegsverbrechers Vojislav Seselji. Seselji's Milizen taten sich im Bosnien-Krieg 1992-1995 und auch im Kosovo wiederholt durch Massenvergewaltigungen - insbesondere an muslimischen Frauen - hervor und zogen mordend und brandschatzend durchs Land. Während ein Fritzl getrost als Einzeltäter bezeichnet werden kann, organisierte die SRS Mord und Vergewaltigung kollektiv und systematisch. Die Doppelmoral der FPÖ springt ins Auge: Während Strache für Vergewaltiger hierzulande die "chemische Kastration" fordert (3), schließt er gleichzeitig in Belgrad mit Organisatoren von Massenvergewaltigungen politische Freundschaft.

Und Haider, Westenthaler und ihr BZÖ? Während für die BZÖ-Spitze Sexualstraftäter "ihr Menschenrecht verwirkt" haben, gilt das anscheinend nicht für Mörder von Berufswegen. Wir erinnern uns noch allzu gut, wie Haider die kriegsverbrecherischen Waffen-SS Soldaten als "anständige Menschen, die einen Charakter haben" in Schutz nahm - ein Nazi-Bande, die im Zweiten Weltkrieg unzählige Male Zivilisten massakrierte und Frauen schändete. (4) Strache, Westenthaler & Co. haben also nicht das geringste Recht, der Bevölkerung Ratschläge über die Bestrafung von Vergewaltigungen zu erteilen.

Die Erklärung der bürgerlichen Heuchler: Der "Verfall der Werte"

Ganz allgemein versuchen die rechten, konservativen Ideologen die Erschütterung der Menschen über die Vorfälle in Amstetten für ihre Propagandaoffensive in Sachen bürgerlicher Moral zu nützen. Symptomatisch dafür ist die Schlußfolgerung der Kronen Zeitung in ihrer Kolumne "Eule", die diese aus den Ereignissen in Amstetten zieht: "Dass die von der 68er-Bewegung so sehr empfohlene ,anti-autoritäre Erziehung' völlig Schiffbruch erlitten hat, ist jetzt ohnehin für jedermann offenkundig. Heute weiß man wieder: Kinder brauchen verbindliche Werte, Halt, Orientierung und gesetzte Grenzen." (5)

Ebenso meint die Katholische Kirche, die Ereignisse in Amstetten als Ausdruck mangelnder Religiosität interpretieren zu können. So kommentierte der erzreaktionäre St. Pöltner Diözesanbischof Klaus Küng den Fall in einem PRESSE-Interview: "Ohne Glauben wird der Egoismus immer stärker, die Menschen verrohen und vereinsamen." (6) Ähnlich schlußfolgert der Wiener Erzbischof Christoph Schönborn aus Amstetten: "Ich glaube, man kann da sehr klar und ganz grundsätzlich sagen: Der Mensch, der nur Mensch ist, ist in Gefahr, Unmensch zu werden. Der Mensch, der nicht von oben her gehalten wird, der nicht die Kraft des Geistes, des Schöpfer- und Gnadengeistes, erfährt, ist in Gefahr, zum Unmensch zu werden. (...) Der Mensch kann nicht aus sich alleine heraus erklärt werden, er hält gewissermaßen nur von oben her zusammen. Ohne den Heiligen Geist ist der Mensch in Gefahr, unheilig zu werden." (7)

Solche Aussagen sind in jeder Hinsicht absurd und reaktionär. Die Kirche möchte uns weismachen, daß die Menschen zu wenig gottesfürchtig geworden sind, daß in Schule, Medien und Familie zu wenig konservative Werte vermittelt werden und deswegen jetzt mehr Menschen zu Gewalt und Verrohung neigen. Doch jedem und jeder mit einem Minimum an Geschichtswissen ist bekannt, daß die Geschichtsperioden und die Länder, wo die Kirche und die Werte der Religion eine vorherrschende Rolle in der Gesellschaft spielten (wie das Mittelalter, das austro-faschistische, katholische Schuschnigg-Regime 1934-38, die ultra-katholische Franko-Diktatur in Spanien usw.) von einem hohen Ausmaß an Gewalt und Unterdrückung geprägt waren. Gewalt und Unterdrückung wurden nicht nur gegen politische GegnerInnen ausgeübt, sondern auch gegen nationale und religiöse Minderheiten ebenso wie gegen Frauen, die unangepaßt waren (z.B. die sogenannten Hexen) oder die einfach nur Opfer von sexistischer Gewalt wurden (sei es durch Vergewaltigung im Krieg oder die alltägliche Gewalt in den heimischen vier Wänden, die in solchen Zeiten weniger öffentlich thematisiert wird, aber nichtsdestotrotz allgegenwärtig war.)

Die moralischen Ermahnungen seitens der Kirche sind darüberhinaus auch deswegen grotesk, weil sie ausgerechnet von jener Institution kommen, in der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten von Priestern und Bischöfen rund um die Welt zahlreiche sexuelle Vergehen gegen junge Burschen begangen wurden (und werden).

Die reaktionäre Moralkampagne der kirchlichen - aber auch liberalen - Ideologen wird oft gerne mit einem bürgerlich-mystizistischen Erklärungsmodell für solche Ereignisse wie den Mißbrauchsskandal in Amstetten verbunden: Schuld ist "das unerklärliche Böse", die unergründliche Natur des Menschen. So meint der Erzbischof Schönborn zu den Ereignissen in Amstetten:

"Eines ist sicher nach der Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass das Böse meistens nicht in der erschreckenden, sondern in der banalen Gestalt daherkommt (...) Vielleicht ist es die Anfrage an uns, wie ernst wir die Realität des Bösen nehmen. Haben wir wirklich genug getan, wenn wir versuchen, alles psychologisch zu erklären? In diesem konkreten Fall hat man doch den Eindruck, mit einer abgründigen Realität des Bösen konfrontiert zu werden, die eben nicht einfach wegerklärt werden kann. Und die auch nicht dadurch erklärt werden kann, dass vielleicht jemand eine schwierige Kindheit gehabt hat." (8)

Das letztlich gleiche reaktionäre Erklärungsmodell - allerdings minus Gottesfurcht - liefert der linksliberale Kommentator Christian Ortner, der die diversen Fälle von Kindesmißbrauch in Österreich, den USA oder in England als "Teil der Conditio Humana, der ab und an und da und dort aufflackert" bagatellisiert. Nicht das System sei schuld, sondern die menschliche Natur: "Es ist eben nicht die Summe von Justizversagen, von Nachbarnversagen, von Sozialstaatsversagen, die zu derartigen Verbrechen führt, es ist letztlich die Natur des Menschen." (9)

Hier sehen wir einmal mehr, wie nahe sich in Wirklichkeit die bürgerlich-konservativen und die bürgerlich-liberalen Ideologen stehen. Sie hantieren mit unterschiedlichen Nuancen (wahlweise mit oder ohne Gott u.ä.), aber die Quintessenz ist die gleiche: die Ursache ist nicht der Kapitalismus, sind nicht die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse, sind nicht die herrschende Moral, sondern etwas, was schwer faßbar ist: Das Böse bzw. die Natur des Menschen. Für die herrschende Klasse liegt der praktische Vorteil der Propaganda von diesem bürgerlich-mystizistischen Unsinn darin, daß er den Menschen das Gefühl gibt, es handelt sich hier um nicht veränderbare Probleme, die man einfach hinnehmen müsse. Den unterdrückten Klassen soll eingeredet werden, daß man nicht mehr tun könne, als sich in die eigenen Wände zurückziehen und auf den starken Staat und/oder ein Wunder durch Gottes Hand hoffen. (10)

In Wirklichkeit zeigt der Mißbrauchsskandal in Amstetten die tatsächlichen, schädlichen Folgen der konservativen Moral. Josef Fritzl war das Paradebeispiel für einen "anständigen Bürger". Genau deswegen konnte er sein grausames Werk so lange durchführen, weil in der bürgerlichen Gesellschaft ein autoritärer Vater Ansehen genießt, anstatt verabscheut zu werden. Eine Amstettner Bürgerin bringt dies in einem Interview mit der deutschen Zeitung DIE WELT auf den Punkt:

"Wenn er beim Bäcker Semmeln kaufte, zehn Stück, und einen Liter Milch zum Beispiel. Oder wenn er mit seinem Mercedes vorbeifuhr, da nickte er und sagte ein unhörbares "Grüß Gott". Eigentlich war er wie sie alle hier. (...) Wie viele in Amstetten dachte Rosa M., dass jemand, der so lebt, am Sonntag in die Kirche geht und seit über 50 Jahren mit derselben Frau verheiratet ist, kein schlechter Mensch ist. ,Alle dachten das', sagt Rosa M. (...) Man wusste, dass er in seiner Familie das absolute Sagen hatte." (11)

Und jetzt mal ehrlich: Will die Kronen Zeitung oder sonst jemand Fritzl ernsthaft vorwerfen, daß er zu sehr vom anti-autoritären Geist der 1968er-Bewegung beeinflußt war? Nein, es ist genau umgekehrt: Fritzl war ein Tyrann, der seine Familie einsperrte, drangsalierte, verprügelte und vergewaltigte. Die Kronen Zeitung behauptet, "Kinder brauchen verbindliche Werte, Halt, Orientierung und gesetzte Grenzen". Fritzl setzte seinen Kinder "Grenzen": Sie durften selten weggehen, seiner Tochter Elisabeth wollte er das Ausgehen verbieten usw. Genau deswegen wollte sie von zu Hause ausziehen und genau diese Freiheit wollte der Tyrann ihr nicht gewähren. (12) Sie war ja "seine" Tochter, er wollte ja nur das Beste für sie und daher hatte er auch alle Ansprüche auf sie. Es ist genau dieser reaktionäre "alte Herrenstandpunkt" (Lenin), diese Mentalität von Sklavenhalter, die den Männern von der bürgerlichen Gesellschaft eingetrichtert wird und die es zu bekämpfen gilt.

Doch in der bürgerlichen Gesellschaft werden "Herren", Patriarchen nach wie vor akzeptiert, ja sogar bewundert. Dies kam auch in der abscheulichen Aussage eines Polizisten zum Ausdruck, der Josef Fritzl aufgrund der sieben im Laufe von 24 Jahren durch Vergewaltigung gezeugten Kinder als "sexuell potenten Mann" bezeichnete.

SPÖ-Gusenbauer als Retter der Jugend vor einer "neuen Erbsünde"

Als der Dümmste der Demagogen hat sich einmal mehr der SPÖ-Parteichef Alfred Gusenbauer erwiesen. Er schwang sich auf zum Ritter gegen eine "neue Erbsünde" und Retter des "Ansehens unseres Landes", welches "wir uns von niemandem, egal wo auf der Welt, mies machen (lassen)" (13)

Es ist bezeichnend für den bürgerlichen Charakter der sozialdemokratischen Bürokratie, daß diese nun statt einer Kampagne gegen die Benachteiligung von Frauen, reaktionäre Moral und häusliche Gewalt vielmehr zur Kampagne zur Verbesserung des nationalen Images Österreichs im Ausland aufruft.

Bürgerliche Moral, Familie und häusliche Gewalt

Die bürgerliche Moral ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Das unhinterfragte Gehorchen gegenüber traditionellen Autoritäten wie dem Staat, der Kirche oder dem Familienoberhaupt, das von der bürgerlichen Gesellschaft als legitim verstandene absolute Kontrollbestreben des Familienoberhaupts über das Leben seiner (ihrer) Kinder (und mittlerweile auch das zunehmende Kontrollbestreben des Staates nach Überwachung "seiner" BürgerInnen), die Bevormundung und Unterdrückung der Sexualität von Frauen und Jugendlichen usw. - diese Moral hilft dabei, ein Umfeld zu schaffen, in dem Gewalt, Unterdrückung und Vergewaltigung gegen Schwächere weit verbreitet sind. Die Rolle der bürgerlichen Moral kann nur verstanden werden, wenn man sie im Zusammenhang der Gesellschaft, aus der sie erwächst, betrachtet. Sie ist ein notwendiges ideologisches Hilfsinstrument zur Unterwerfung der ArbeiterInnenklasse - also jener Mehrheit, die gezwungen ist, ihre Arbeitskraft zu verkaufen - durch die Kapitalistenklasse, die Klasse der Produktionsmittelbesitzer. Dieses System beruht auf der Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse. Das tagtägliche Abrackern, der Stress, die Ängste und die daraus resultierende Erschöpfung - all das findet in der einzigen im Kapitalismus existierenden gesellschaftlichen Reproduktionsstruktur - der bürgerlichen Familie - seinen Niederschlag. Denn Verpflegung und Erholung, die Betreuung der Kinder usw. - all dies wird nicht von der Gesellschaft übernommen, sondern in den Verantwortungsbereich der privaten Familie abgeschoben. Natürlich gibt es Restaurants und Kindergärten, aber diese sind für die ArbeiterInnenklasse oft teuer und dienen daher nur als Behelfsstruktur, als Zusatz zur Familie. Die Arbeit in der Familie für Kind und Haushalt ist für den Kapitalisten billiger oder besser gesagt kostenlos, denn während die Besteuerung von Profiten minimal gehalten wird, reicht das Budget des Staates angeblich nicht dazu aus, die Hausarbeit wie erwähnt zu vergesellschaften. Während also die UnternehmerInnen einen kleinen Teil ihres Profites dafür ausgeben können, sich Hausangestellte zu halten, ist es in unserer Klasse die Arbeiterin oder Hausfrau, die sich darum kümmert.

Der Kapitalismus hat die aus historisch vorhergegangenen Klassengesellschaften stammende Frauenunterdrückung übernommen und seinen Bedürfnissen entsprechend angepaßt. Daher die Vorherrschaft des Mannes gegenüber der Frau, daher die Schlechterstellung der Frau in der Arbeitswelt und die vorrangige Verantwortung der Frau für die unbezahlte Hausarbeit.

Vor diesem Hintergrund führt der Druck, die angestauten Aggressionen und Frustrationen zu dem weitverbreiteten Phänomen der häuslichen Gewalt inklusive der Vergewaltigungen.

Die Antwort der Rechten mit Strafverschärfung für Sexualtäter usw. wird den tatsächlichen Problemen überhaupt nicht gerecht. Denn der allergrößte Teil der Vergewaltigungen findet innerhalb der Familie durch - meist männliche - Familienangehörige statt und gelangt niemals zur Anzeige. So schätzt Charlotte Aykler, Geschäftsführerin des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich: "Jedes sechste Mädchen und jeder neunte Bursch haben sexuelle Gewalt in der Familie erfahren." (14)

Und in einer KURIER-Reportage berichtet eine - mittlerweile erwachsene - Frau aus einer Bauernfamilie über ihre grauenhafte Kindheit, in der sie von ihrem Vater wiederholt vergewaltigt wurde. Als sie viele Jahre später in einer örtlichen Frauenrunde mit anderen Frauen aus dem Dorf darüber sprach, stellte sich heraus, daß sie nicht die einzige war: "Unser Dorf besteht aus 16 Häusern, und in drei davon haben die Väter ihre Töchter missbraucht." (15)

Auch die stark anwachsende Zahl von Wegweisungen von Männern wegen familiärer Gewalt - alleine im Jahre 2006 waren es 7235 Fälle - gibt einen kleinen Einblick, wie sehr dieses Phänomen verbreitet ist. (16)

Hier - in der bürgerlichen Familie - findet die große Mehrzahl der grauenhaften Dramen von körperlicher und sexueller Gewalt statt. Die bürgerliche Moral hilft dabei, unsichtbare Mauern um die Familie herum zu errichten. Diese Mauern fördern das Hervorbringen kleiner Sklavenhalter und Tyrannen und verhindern, daß die Opfer sich wehren und an die Öffentlichkeit gehen. Diese Mauern niederzureissen, muß daher ein vorrangiges Ziel der ArbeiterInnenbewegung werden.

Für eine breite Kampagne der ArbeiterInnenbewegung gegen Frauenunterdrückung und häusliche Gewalt

Die ArbeiterInnenbewegung und die Linke muß die grauenhaften Ereignisse in Amstetten zum Anlaß nehmen für eine breite Kampagne gegen die Frauenunterdrückung und gegen häusliche Gewalt. Die LSR tritt für eine Kampagne ein, die sich auf folgende Punkte konzentriert.

Zuallererst bedarf es eines massiven Ausbaus des öffentlichen Angebots für Zufluchtsstätten für Frauen, die der häuslichen Gewalt entfliehen wollen. Es ist ein Skandal, daß es z.B. in Wien bloß vier Frauenhäuser mit 160 Plätzen gibt. Aber es geht nicht bloß um mehr Frauenhäuser, sondern um ein umfassendes Angebot für eine eigenständige Existenz für betroffene Frauen. (Einkommen, Ausbildungsmöglichkeiten, nach Wunsch in anderen Städten usw.)

Der Kampf gegen die Frauenunterdrückung muß jedoch viel weiter gehen. Um die finanzielle Eigenständigkeit von werktätigen Frauen zu verbessern, muß die ArbeiterInnenbewegung gegen die Einkommensungleichheit kämpfen. Damit Frauen nicht an das Heim gebunden sind, bedarf es eines massiven Ausbaus von Kinderbetreuungseinrichtungen und von qualitativ hochwertigen und kostengünstigen Restaurants, Wäschereien u. ä. Wer soll das bezahlen? Das Kapital, jene zahlenmäßig kleine Klasse, die die Gewinne jährlich auf Kosten der Löhne steigert und alleine in Form von Privatstiftungen ein Vermögen von ca. 60 Milliarden Euro angehäuft hat.

Aber der Kampf darf sich nicht nur auf einen Ausbau staatlicher Angebote und der Beseitigung der Lohnungleichheit beschränken. Wir brauchen eine breite Aufklärungskampagne innerhalb der Gewerkschaften, der ArbeiterInnenklasse, der Immigrantengemeinde usw. gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Treffen von Frauen, von Jugendlichen in Schulen usw. müssen gefördert werden, um eventuelle häusliche Gewalt thematisieren zu können. Wir brauchen Nachbarschaftskomitees, die in Versammlungen der Bevölkerung in den Gemeinden und Stadtteilen gewählt und von diesen kontrolliert werden. Diese sollen sich mit Fragen der häuslichen Gewalt und den dafür Verantwortlichen auseinandersetzen und entsprechende Maßnahmen zum Schutz der Frauen und Jugendlichen ergreifen. Gleichzeitig muß es regelmäßige Frauenversammlungen wie auch Jugendlichen-Treffen geben, in denen gemeinsame Projekte und Aktivitäten angegangen werden. Solche Strukturen können dann den Rahmen schaffen, um Männer, die Frauen und Kinder verprügeln, unter Druck zu setzen und zu überzeugen oder nötigenfalls mit den erforderlichen Maßnahmen unschädlich machen. Solange der Kapitalismus nicht gestürzt und die kommunistische Gesellschaft noch nicht errichtet ist, kann die häusliche Gewalt nicht aus der Welt geschafft werden. Aber wir können die Gewalt innerhalb unserer Klasse zurückdrängen, wobei dies jedoch nur dann möglich, wenn das Proletariat zu einer bewußten, kämpfenden, geeinten Klasse wird und das revolutionäre Programm (inklusive seiner kulturrevolutionären Komponenten) auf fruchtbaren Boden fällt.

Gerade deswegen brauchen wir eine Kampagne, die den Sexismus in den Reihen der ArbeiterInnenklasse aufgreift und bekämpft. Wladimir Iljitsch Lenin, der Führer der russischen Bolschewiki und der Oktoberrevolution 1917, definierte die Aufgabe des revolutionären Kulturkampfes gegen die sexistische Vorurteile in den Köpfen vieler männlicher Arbeiter mit den folgenden Worten: "Wir müssen den alten Herrenstandpunkt bis zur letzten, feinsten Wurzel ausrotten." (17)

Eine solche Kampagne kann nicht vom Standpunkt des kleinbürgerlichen Feminismus geführt werden, sondern vom Standpunkt des proletarischen Sozialismus, dessen Ziel der gemeinsame Kampf der gesamten ArbeiterInnenklasse gegen die Kapitalherrschaft und gegen jede Form der Unterdrückung - inklusive der Frauenunterdrückung - ist. (18)

Der Kampf gegen die kapitalistische Herrschaft ist daher notwendigerweise auch ein Kampf gegen die bürgerliche Kultur und ihre Moral. Er beinhaltet daher auch einen Kampf für eine revolutionäre Kultur in den Reihen der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten - eine Moral, die "die Empörung gegen diese Herrschaft und die Zukunftsinteressen der Unterdrückten" vertritt. (19) Eine solche revolutionäre Moral wird es auch den Frauen in der ArbeiterInnenklasse erlauben, sich politisch und gewerkschaftlich zu engagieren, sich kollektiv zu organisieren und dem "spießbürgerlich moralischen Druck", der die Frau an Heim und Herd bindet, entgegenzuwirken. (20)

Letztlich können Frauenunterdrückung und häusliche Gewalt nicht ausgerottet werden, solange jenes System existiert, das diese Plagen der Menschheit stetig aufs Neue hervorbringt: der Kapitalismus. Daher kämpft die LSR für den Sturz der kapitalistischen Herrschaft durch eine sozialistische Revolution. Erst in einer sozialistischen Gesellschaft, in der es keine Ausbeutung und Unterdrückung, keine Klassen und keinen Staat mehr gibt, wird auch die bürgerliche Familie als Zwangseinheit zum Überleben absterben. Erst dann werden Frauen und Männern frei und ohne Druck bestimmen können, ob, wie und mit wem sie zusammenleben möchten. Erst in einer sozialistischen Gesellschaft wird nicht die Frau, die öffentlich über die ihr angetane Gewalt klagt, isoliert und angefeindet sein, sondern der Mann, der es wagt, jemanden so etwas anzutun. Eine solche Welt der Freiheit und Gleichheit gilt es zu erkämpfen und eine solche Welt werden wir erkämpfen! Zu diesem Zweck bauen wir eine revolutionäre Partei auf, eine Partei, für die der Kampf für Frauenbefreiung einen integralen Bestandteil des Kampfes für die sozialistische Revolution darstellt.

(Liga der Sozialistischen Revolution, 12. Mai 2008, www.sozialistische-revolution.org
http://www.sozialistische-revolution.org

Anmerkungen:

(1) Die beiden Autoren, Ralf Leonhard und Bernhard Redl, kritisieren in ihren Artikeln zurecht den Umgang der bürgerlichen Medien mit dem Mißbrauchsskandal. Allerdings behandeln sie nicht den eigentlich wesentlichen Kern der Frage - das Verhältnis von häuslicher Gewalt, Frauenunterdrückung und Kapitalismus.

(2) Michael Pröbsting: "Der Mißbrauchsskandal in Amstetten: Wenn die Familie zum Gefängnis wird" (in: BEFREIUNG Nr. 158 sowie auf unserer Homepage www.sozialistische-revolution.org/phpwcms/index.php?id=25,428,0,0,1,0

(3) Freiheitlicher Parlamentsklub: "Strache gegen psychiatrische Therapie für Sexualverbrecher Fritzl", OTS-Aussendung, 8.5.2008,
http://www.ots.at/presseaussendung.php?schluessel=OTS_20080505_OTS0054

(4) Siehe auch: Auszüge aus der Rede von Jörg Haider vor SS-Veteranen in Krumpendorf, 30.9.1995, www.smoc.net/haiderwatch/

(5) Kronen Zeitung, 4.5.2008, S. 8

(6) Interview mit dem St. Pöltner Diözesanbischof Klaus Küng zum Fall Josef F.: "Ohne Glauben verrohen die Menschen", in: Die Presse, 3.5.2008

(7) Interview mit dem Wiener Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn: "Das Böse kommt meistens in banaler Gestalt daher", in: Die Presse, 10.5.2008, S. 7

(8) Interview mit dem Wiener Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn: "Das Böse kommt meistens in banaler Gestalt daher", in: Die Presse, 10.5.2008, S. 7

(9) Christian Ortner: "Amstetten, Jersey, Texas", in: Die Presse, 2.5.2008

(10) Nebenbei bemerkt verwenden bürgerliche (inklusive der antinationalen) Ideologen das gleiche Erklärungsmuster vom unerklärlichen Bösen und Irrationalen, um den Faschismus und Antisemitismus zu erklären. Daher sei der Holocaust unerklärlich und einmalig, daher sei der Iran die größte Gefahr der Menschheit und daher müsse man einen permanenten Präventivkrieg gegen den Terror und alle "verrückten Diktatoren" führen.

(11) WELT: Amstetten - Das Böse wohnte gleich nebenan,
http://www.welt.de/vermischtes/article1962554/Amstetten___Das_Boese_wohnte_gleich_nebenan.html

(12) ÖSTERREICH: Elisabeth kündigte brieflich Flucht vor Vater an, 08. Mai 2008,
www.oe24.at/zeitung/oesterreich/chronik/niederoesterreich/article302692.ece

(13) So Alfred Gusenbauer in seiner Rede am 1. Mai in Wien; zitiert in: ORF: 100.000 bei SPÖ-Maiaufmarsch, http://www.orf.at/080501-24588/index.html

(14) "Die Schande hinter dem Drama von Amstetten", KURIER, 4.5.2008, S. 12

(15) "Meine Mutter will das einfach nicht glauben", KURIER, 4.5.2008, S. 13

(16) "Häusliche Gewalt", Wiener Zeitung, 7.5.2008

(17) Clara Zetkin: Erinnerungen an Lenin (1925), in: Clara Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften, Band 3, S. 150

(18) Genaueres zu unserer theoretischen Analyse der Frauenunterdrückung und dem marxistischen Programm der Frauenbefreiung findet sich in den Thesen unserer internationalen Tendenz, der Liga für die 5. Internationale: "Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus. Keine Sozialismus ohne Frauenbefreiung"; in: Revolutionärer Marxismus Nr. 1

(19) Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft (1878), in: MEW 20, S. 87f.

(20) Siehe dazu auch Nina Gunic': "Frauenbefreiung, Moral und Klassenkampf. Der Weg zur Revolutionärin"; in: BEFREIUNG Nr. sowie http://www.sozialistische-revolution.org/phpwcms/index.php?id=18,336,0,0,1,0


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